Grundsätzlich darf ein Unternehmer Vorsteuer abziehen, wenn die Leistung erfolgt ist und er eine Rechnung mit ausgewiesener Umsatzsteuer erhalten hat. Der Zeitpunkt der Zahlung spielt dabei keine Rolle. Eine Ausnahme gilt bei Anzahlungen. Erhält der Unternehmer eine Rechnung über eine Anzahlung (Abschlags- oder Vorauszahlung), darf er die ausgewiesene Umsatzsteuer erst dann als Vorsteuer abziehen, wenn er die Zahlung geleistet hat.
Jetzt sieht es für diese Regelung nach einem „es war einmal“ aus, denn der EuGH hat mit seinem Urteil diese Regelung verworfen und stellt uns in der Praxis vor enorme Herausforderungen.
Urteilsfall
Im Streitfall ging es um den Vorsteuerabzug aus der Anmietung von Räumen. Sowohl die Vermieterin, als auch die Mieterin unterlagen der Ist-Versteuerung nach § 20 UStG, d.h. für die von ihnen ausgeführten Umsätze entstand die Umsatzsteuer erst mit der Vereinnahmung der entsprechenden Entgelte. So steht es im § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b) UStG.
Die Mieten der Jahre 2009 – 2012 wurden aufgrund einer Stundungsvereinbarung erst in den Jahren 2013 – 2016 gezahlt. In den Zahlungen waren jeweils 19 % Umsatzsteuer enthalten. Die Mieterin machte den Vorsteuerabzug aus ihren Eingangsleistungen immer in dem Voranmeldungszeitraum bzw. dem Kalenderjahr geltend, in dem die Zahlung erfolgte. Sie vertrat die Auffassung, aufgrund der für sie maßgeblichen Ist-Versteuerung, würde auch ihr Recht auf den Vorsteuerabzug erst mit Entrichtung der entsprechenden Entgelte entstehen. Das Finanzamt versagte hingegen den Vorsteuerabzug für diese Zeiträume, da die Regelung der Ist-Versteuerung nur die Besteuerung der Ausgangsumsätze betreffe. Das Recht des Vorsteuerabzugs richtet sich nach den allgemeinen Grundsätzen der Soll-Versteuerung. Demnach sei die Vorsteuer bereits in den Jahren 2009 – 2012, mit Ausführung der Vermietungsleistungen, entstanden und auch in diesen – im Streitfall bereits festsetzungsverjährten – Zeiträumen geltend zu machen gewesen.
Im Zuge des vom Finanzgericht eingeleiteten Vorlageverfahrens kam der EuGH zu folgendem Schluss: Die Regelungen des deutschen Umsatzsteuergesetzes zur Entstehung des Vorsteuerabzugsrechts beim Leistungsempfänger sind in Fällen der Ist-Versteuerung durch den Leistenden, unionsrechtswidrig.
Nach dem Unionsrecht entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug gleichzeitig mit dem Anspruch auf die abziehbare (Ausgangs-) USt des leistenden Unternehmers. Dies ist auch der Fall, wenn die Umsatzsteuer aufgrund der Ist-Versteuerung des Leistenden erst mit Vereinnahmung der Zahlung entsteht. Der Leistungsempfänger kann den Vorsteuerabzug dann erst im Zeitpunkt der Zahlung vornehmen. Dies gilt für alle Leistungsempfänger, unabhängig von einer Ist- oder Soll-Versteuerung. Insoweit sind das deutsche Umsatzsteuerrecht und die derzeitige Auffassung der Finanzverwaltung unionsrechtswidrig.
Praxishinweis
In der Praxis führt das zu erheblichen Schwierigkeiten, denn im Normalfall weiß der Leistungsempfänger nicht, ob der Leistungserbringer Ist- oder Soll-Versteuerer ist. Es bleibt also abzuwarten, wie das Ganze in der Praxis umzusetzen ist. Bis zu einer Änderung des UStG bzw. des Umsatzsteueranwendungserlasses (UStAE) können Unternehmer jedoch auf die Regelung des UStAE vertrauen.
Fundstelle
EuGH, Urteil vom 10.02.2022, C-9/20