Bei der Veräußerung eines Betriebes wird unter bestimmten Voraussetzungen der Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG gewährt. Der Freibetrag wird nur einmal im Leben und nur auf Antrag gewährt.
Im Urteilsfall betrieb Holger eine Praxis, die er im Jahr 2019 beendete. Er erzielte einen Aufgabegewinn, den er in seiner Einkommensteuererklärung angab. Er beantragte den Freibetrag nach § 18 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 4 EStG. Dieser wurde vom Finanzamt gewährt. Es wurde jedoch eine Betriebsprüfung eingeleitet, die den Freibetrag dann versagte.
Grund für die Versagung des Freibetrages
Holger hatte im Jahr 2011 eine Beteiligung an einer GmbH & Co. KG veräußert. In seiner Steuererklärung hatte er dazu keine Angaben gemacht, das Finanzamt erfuhr aufgrund einer sog. ESt4B-Mitteilung davon. Es berücksichtigte in einem Änderungsbescheid einen Gewinn aus der Veräußerung der Beteiligung. Dabei berücksichtigte es den Freibetrag nach § 16 Abs. 4 EStG, was sich ausschließlich aus den internen Unterlagen des Finanzamtes ergab. Auf die tatsächliche Berücksichtigung des Freibetrags wurde weder im Erläuterungstext des Steuerbescheids noch in der im Steuerbescheid in Bezug genommenen Anlage hingewiesen. Die Berücksichtigung des Freibetrags war von Holger nicht beantragt worden. Vielmehr setzte das Finanzamt diesen gemäß damals bestehender Verwaltungspraxis selbständig an.
Gegen die Versagung des Freibetrages im Bescheid für das Jahr 2019 legte Holger Einspruch ein. Dieser wurde jedoch als unbegründet zurückgewiesen. Zwar sei der Freibetrag von Holger bzw. dessen Steuerberatung damals nicht beantragt worden, gleichwohl habe sich die Gewährung des Freibetrags im Jahr 2011 steuerlich ausgewirkt. Holger sei deshalb angehalten gewesen, gegen diesen – insoweit unzutreffenden – Steuerbescheid Einspruch einzulegen. Dies habe er unterlassen. Die steuerliche Auswirkung im Jahr 2011 könne nun im Streitjahr nicht mehr rückgängig gemacht werden. Der Freibetrag sei in voller Höhe verbraucht.
Dagegen legte Holger Klage ein. Den Verbrauch des mangels vorheriger Antragstellung rechtswidrig gewährten Freibetrags müsse er sich nicht entgegenhalten lassen, da für ihn nicht erkennbar gewesen sei, dass sich der Freibetrag ausgewirkt habe.
Finanzgericht gibt Holger Recht
Die vollständige Verbrauchswirkung tritt nach ständiger Rechtsprechung auch ein, wenn der Freibetrag, der dem Wortlaut des § 16 Abs. 4 EStG nach ausdrücklich einen Antrag des Steuerpflichtigen voraussetzt, vom Finanzamt ohne vorherige Antragstellung berücksichtigt wurde und der Steuerpflichtige gegen die unzutreffende Festsetzung nicht vorgegangen, diese also bestandskräftig geworden ist (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 21.07.2009, X R 2/09, BStBl 2009 II S. 963, vom 28.09.2021, VIII R 2/19, BStBl 2022 II S. 169).
Das gilt jedoch nicht, wenn sich der Steuerpflichtige deshalb nicht gegen den Bescheid gewehrt hat, weil er nicht erkennen konnte, dass der Freibetrag gewährt wurde (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH in BStBl 2009 II S. 963, BStBl 2022 II S. 169, BFH/NV 2016, S. 199 - 200).
So war es auch im vorliegenden Fall. Holger konnte die Gewährung der Freibetrages im Jahr 2011 nicht erkennen, da das Finanzamt nicht ausdrücklich und eindeutig darauf hingewiesen hat. Da der Erläuterungstext des Bescheids weder einen Hinweis auf die Verwendung des Freibetrags noch auf die damit verbundene Verbrauchswirkung enthielt, war Holger nicht gehalten, den Berechnungsteil des Bescheids daraufhin zu überprüfen, ob das Finanzamt entgegen dem Gesetzeswortlaut ohne seinen Antrag den Freibetrag mit der Folge des Verbrauchs des weit überwiegenden Teils des Freibetrags für etwaige künftige Veräußerungsgewinne gewährt hatte.
Für die Aufgabe der Praxis im Jahr 2019 darf Holger daher den im Jahr 2011 noch nicht verbrauchten Teil des Freibetrages in Anspruch nehmen.
Hinweis
Da Holger im Klageverfahren lediglich den noch nicht verbrauchten Freibetrag beantragt hatte, musste das FG nicht entscheiden, ob ihm der volle Freibetrag zugestanden hätte.
Revision hat das FG nicht zugelassen, das es als Tatsachengericht ständige Rechtsprechung auf den Einzelfall angewendet hat.