Nach Ablauf der Festsetzungsfrist dürfen für ein abgelaufenes Kalenderjahr keine Steuererklärungen mehr abgegeben, keine Steuerbescheide mehr erlassen oder in irgendeiner Weise geändert werden. Die Festsetzungsfrist beträgt außer in Ausnahmefällen (leichtfertige Steuerverkürzung oder Steuerhinterziehung) vier Jahre (§ 169 AO). Grundsätzlich beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist. Wenn eine Pflicht zur Abgabe einer Steuererklärung besteht, beginnt die Festsetzungsfrist erst mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuererklärung beim Finanzamt eingereicht wurde, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahres, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist.
Urteilsfall
Der Kläger Helmut reichte am 30.12.2019 für das Streitjahr 2012 eine Einkommensteuererklärung für sich und seine während des Streitjahrs verstorbene Ehefrau beim Finanzamt ein. Darin erklärte er Einnahmen aus nichtselbstständiger Arbeit, von denen ein Lohnsteuerabzug vorgenommen worden war, ferner Einnahmen aus Kapitalvermögen in Höhe von 4.417 EUR, die dem abgeltenden Kapitalertragsteuerabzug unterlegen hatten. Insoweit beantragte der Kläger die Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes (EStG). Darüber hinaus erklärte der Kläger Einnahmen aus Renten der Basisversorgung in Höhe von 2.602 EUR (Einkünfte: 1.563 EUR) sowie gewerbliche Einkünfte aus einer im Streitjahr angeschafften Photovoltaikanlage in Höhe von ./. 3.678 EUR. In einem Begleitschreiben beantragte er die Durchführung der Einkommensteuerveranlagung für 2012.
Das Finanzamt lehnte die Durchführung einer Einkommensteuerveranlagung ab. Die Voraussetzungen für eine Pflichtveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG seien nicht erfüllt, weil die positive Summe der Einkünfte, die nicht dem Steuerabzug vom Arbeitslohn zu unterwerfen seien, nicht mehr als 410 EUR betrage. In diese Berechnung seien die mit der Kapitalertragsteuer abgegoltenen Einnahmen aus Kapitalvermögen nicht einzubeziehen. Für eine Antragsveranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG sei die Festsetzungsfrist bereits am 31.12.2016 abgelaufen, weil die dreijährige Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) insoweit nicht anzuwenden sei.
Im Finanzgerichtsverfahren stellte sich heraus, dass bei den Einkünften aus Gewerbebetrieb eigentlich nur ein Verlust i. H. v. 163 EUR entstanden ist. Bei Saldierung der gewerblichen Einkünfte von ./. 163 EUR mit den Renteneinkünften von 1.563 EUR sei der in § 46 Abs. 2 Nr. 1 EStG genannte Schwellenwert von 410 EUR überschritten. Die Festsetzungsfrist sei gewahrt, weil der Kläger die Einkommensteuererklärung innerhalb dieser Frist beim Finanzamt eingereicht habe. Mit seiner Revision machte das Finanzamt geltend, dass es für die Wahrung der Festsetzungsfrist nicht auf die Einreichung der Steuererklärung ankommt, sondern auf den Zeitpunkt, zu dem der Steuerbescheid den Bereich der zuständigen Finanzbehörde verlasse.
Und so sah es jetzt auch der BFH. Er führte weiter aus, dass nach den Grundsätzen von Treu und Glauben nicht erwartet werden kann, dass der Steuerbescheid noch innerhalb der Festsetzungsfrist den Bereich der Finanzbehörde verlässt, wenn die Steuererklärung erst einen Tag vor Ablauf der Festsetzungsfrist beim Finanzamt eingereicht wird. Außerdem sei die Abgabe einer gesetzlich vorgeschriebenen Steuer- oder Feststellungserklärung nicht als Antrag i. S. d. § 171 Abs. 3 AO anzusehen. Dies gilt auch dann, wenn in einem Begleitschreiben zu der gesetzlich vorgeschriebenen Steuererklärung von einem "Antrag auf Veranlagung" die Rede ist. Es greift somit auch keine Anlaufhemmung. Eine Einkommensteuerveranlagung für 2012 wurde entsprechend nicht mehr durchgeführt.
Fundstelle
BFH-Urteil vom 28.07.2021, X R 35/20